Till Lindemann und die jungen Mädchen - Männer, die sich alles nehmen "Fass mich nicht nochmal an!"

Das ist der Artikel/Erfahrungsbericht, den ich letztes Jahr zum Thema "Till Lindemann und sexualisierte Gewalt gegen Frauen" für die Berliner Zeitung geschrieben habe. 

Hier der Artikel, der in der Berliner Zeitung veröffentlicht wurde:

https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/autorin-zana-ramadani-zu-till-lindemann-im-salon-fass-mich-nicht-nochmal-a-li.358281

Hier mein vollständiger: 

Es ist jetzt gut eine Woche her, dass ich via Twitter auf die Geschichte von Shelby Lynn aufmerksam wurde. Das, was sie dort schilderte, wie sie es schilderte. Die verstörenden Bilder ihres geschundenen Körpers dazu … Mein erster gedankliche Reflex: „Ja, Shelby. Ich glaube Dir.“

Dennoch äußerte ich mich nicht dazu. Weder „likete“ ich ihren Beitrag, kommentierte ihn nicht, teilte ihn nicht. Warum? Da war dieses andere Gefühl: Wäre es doch eine Vorverurteilung? Ich war nicht dabei. Ich kenne keine möglichen Zeugen. Zwickmühlen werden aus Zweifeln gebaut.

Mein Bezug zu Rammstein: Ich war noch nie auf einem Rammstein-Konzert. Okay.  Ich fand die Musik, diese harten Testosteron-Klänge schon immer gut. Diese männlich-toxischen Texte allerdings nicht.

Ich schob Shelbys Tweet zur Seite und mein Leben als Mutter und Autorin nahm mich voll in Anspruch. Allerdings ließen die Medien nicht locker. Und ich bekam mit, wie zwei Maschinen sich im gnadenlosen Kampf um die Deutungshoheit über den Fall Shelby Lynn gegen Till Lindemann (und Rammstein) in Stellung brachten. Die eine schoss mit der Munition „Vergewaltiger! Perverser!“ auf alles, was sich ihr in den Weg stellte. Die andere feuerte zurück, „Sie hat es doch nicht anders gewollt!“, „Er ist ein unverstandener Künstler!“, klangen die Salven. Es ist ein Kampf, bei dem nicht nur einfach die Wahrheit, so bedeutend sie auch für diesen Fall sein mag, auf der Strecke zu bleiben droht. Denn: Ab jetzt sprechen Juristen, die von den Düster-Rockern beauftragt wurden. Ab jetzt geht es um das Gesetz. Paragraphen. Strafandrohungen. Verbote. Mundtot machen. Dominanz ausstrahlen. Die Oberhand über die Lage gewinnen. Nicht selten werden dabei aus Opfern plötzlich Täter.

Es ist das alte Spiel, das man kennt, seit die Epsteins, Harvey Weinsteins, Prinz Andrews, Helmut Dietls dieser Welt mit ihrem schändlichen Verhalten eine #metoo-Debatte auslösten, die um die Welt ging. Und wieder leise verschwand. JETZT poppt gerade genau das wieder auf. Warum? Weil etwas passiert ist, an die Öffentlichkeit gelangt ist, was vielleicht nicht hätte passieren können. Wenn die drei einfachen Fragen, die mir bis heute – und heute wieder besonders laut – im Kopf herumgehen, endlich von unserer Gesellschaft beantwortet und deren Botschaften gefressen wurden.

 

  1. Wo beginnt Gewalt?
  1. Was ist Freiwilligkeit, wenn man patriarchal sozialisiert wurde und in dieser sehr hypersexualisierten Gesellschaft lebt?
  1. Warum stellt die Gesellschaft bei dem Gewaltbericht einer Frau sofort die Frage: „Was hatte sie an. Warum ist sie hingegangen. Hat sie etwas getrunken.“ Nicht aber: „Warum lässt sich ein alter Mann junge Mädchen zuführen?“

 

Eigentlich sollte sich jeder die Fragen leicht selbst beantworten können. Obwohl ich mir diese Fragen selber immer wieder beantworte und sogar Bücher darüber schreibe, tauchen sie jetzt wieder als unbeantwortet auf. Weil die Antworten, wie der Fall beweist, nicht verstanden werden.  

Ich. Will. Endlich. Veränderung. Ich. Will. Verstehen. Ich. WILL. Heilung.

Ich will Gleichheit und Sicherheit. Allein schon, weil ich Mutter zweier Töchter bin.

Ich möchte, dass jedes Individuum unserer Gesellschaft die Antworten auf diese drei Fragen mit der Muttermilch aufnimmt – um danach zu leben:

 

  1. Wo beginnt Gewalt?

Gewalt beginnt schon, wenn man unter Vorspielen falscher Tatsachen irgendwo hingelockt wird. Hier wurden mutmaßlich bewusst scheinbar sehr junge Mädchen, die Fans sind, auf die Konzerte und auch auf die Aftershow-Partys gelockt. Dann fern ab von der eigentlichen Menschenmasse abgeschirmt, in einem kleinen Raum befördert und das Handy vorher abgenommen. Die Schilderungen aktivieren das Kopfkino: In diesem kahlen Raum gibt es nichts – außer spärliche Sitzgelegenheiten, einschüchternde Muskelberge, Alkohol und Drogen. Dann kommt dieser Mann herein. Er ist groß. Er ist düster. Er schnauft. Er stiert. Er hat riesige Hände. Er ist der Superstar. Er kann alle haben. Vielleicht sagt er etwas. Vielleicht ein tief grollendes „Hallo …“. Vielleicht auch: „Komm zu mir“. Oder „Trink.“ Er hat diesen Shot in der Hand. Er hält ihn dem Mädchen vor das Gesicht. Er ist so nah. Es ist so bedrohlich … Sie ist die Maus. Er die Schlange. Die übermächtige Anakonda, die alles verschlingt … Das Mädchen, vor Angst wie hypnotisiert … Die Anakonda IST Gewalt.
 

  1. Welche Chance auf Freiwilligkeit haben Frauen, wenn man patriarchal sozialisiert wurde und in dieser sehr hypersexualisierten Gesellschaft lebt?

Das wir noch immer in einer patriarchalen Gesellschaft leben wird keiner bestreiten können. Ja. Natürlich sind wir viel weiter als manch andere Gesellschaften. Aber noch lange nicht am Ziel. Sonst würden wir nicht gefühlt täglich darüber diskutieren müssen, dass Lohnungleich aktiver bekämpft und Care-Arbeit mehr aufgeteilt werden müsste. Wenn wir keine patriarchale Gesellschaft wären, dann gäbe es keine Form von Gewalt gegenüber Frauen. Die Vergewaltigungs- und sexuelle Übergriffszahlen würden nicht wieder steigen. Wie freiwillig kann man in so einer hypersexualisierten Welt tatsächlich über seine Sexualität als Frau entscheiden, wenn bereits Mädchen durch das Aussehen von (LOL)-Puppen, Medien, aufreizender Kinderkleidung suggeriert bekommen, schon von klein auf „sexy“ sein zu müssen? Dann schon vor der Pubertät viele Kinder auf Pornoseiten auf dem Handy während der Schulpause auf dem Grundschulhof unterwegs sind. Bei Gesprächen in Schulen mit 13-jährigen Mädchen erzählten mir diese, dass es doch normal sei, Analsex zu haben und dass es zu „normalem Sex“ dazugehöre. Sonst sei man doch voll prüde, würden die Jungs sagen.

Wenn man so sozialisiert wurde – Wie freiwillig kann man sich dann wirklich für oder gegen etwas entscheiden? Ich gehöre noch einer Generation an, die noch nicht so hypersexualisiert erzogen wurde. Allerdings wurde ich auf eine Art sozialisiert, die anders, aber ebenso gefährlich war. Bei uns hieß es, dass man sich als Mädchen mehr zurücknehmen, nicht zu fordernd sein solle. Nicht zu auffällig, sonst könne das jemand missverstehen. Gefordert wurde  eine größere Scham für meine Weiblichkeit und Angst nicht gemocht zu werden. Denn als Mädchen muss man gemocht werden. Schwierige, laute Mädchen mag keiner. „Nein!“-sagende Mädchen sind schließlich schwierig. Das heißt: Chance auf Freiwilligkeit haben Frauen nur, wenn es Gleichheit gibt.

  1. Warum stellt die Gesellschaft bei einem Gewaltbericht einer Frau sofort die Frage nach der Kleidung, ob sie geschminkt gewesen sei oder etwas getrunken habe?

Solche Fragen werden reflexhaft gestellt, weil in einer patriarchalen, vorurteilsbehafteten Gesellschaft zuerst die Schuld bei der Frau gesucht wird. Und es ein Stereotyp in den Köpfen der meisten gibt: Der Täter ist ein fremder Mann, der nachts im Park Frauen auflauert. Dabei trifft er auf eine betrunkene Frau im knappen Rock – die es wohl mit ihrem Verhalten und Kleidung provoziert hat. So ist es leider nicht. Die meisten Vergewaltiger kommen nachweislich aus dem Bekanntenkreis, Familienkreis, sind der Partner / Expartner. Vergewaltigungsopfer finden sich überall. Jedes Alter ist vertreten, jede Gesellschaftsschicht und vor allem in jeder Kleidung. Jedoch sind die wenigsten dabei sehr knapp und sexy gekleidet. Wie die Wanderkunstaustellung „Was ich anhatte“ seit Jahren ganz deutlich zeigt. In dieser Ausstellung werden Kleidungsstücke gezeigt, die Vergewaltigungsopfer bei der Tat getragen haben. Jeans, Oversized-Pullover, hochgeschlossene Kleider, Pyjama….

Spätestens nach all diesen, für jeden leicht recherchierbaren Fakten, dürfte keiner mehr solche dummen Fragen stellen und damit die Schuld beim Opfer suchen.

Auch ich hatte meine Geschichte mit Till Lindemann. Unangenehm. Verstörend. Aber nicht im Geringsten so, wie jetzt so viele Frauen von ihren Begegnungen mit Till Lindemann erzählen. Ich bin 2015 nach Berlin gezogen und rutschte automatisch da hinein: Geheime Partys. Geschlossene Gruppen. Einlass nur auf Empfehlung. Künstler, Medienleute, Entscheider aus Politik und Wirtschaft. Viele, die wichtig waren, manchmal mehr von denen, die sich für wichtig hielten. Echte Stars. Und Sternchen. Mein Glück war, dass ich nicht mehr 18, 20 oder 22 war. Sondern schon reifer mit 32 Jahren. Ich hatte schon einige Lebenskämpfe hinter mir. Daher war ich nicht mehr von einem Mann so leicht zu überrumpeln. Egal ob Star oder nicht. 

Es war einer dieser Freitagabende im Frühjahr 2016. Freitagabends war Berlin Mitte immer unser Revier. Wir gehörten zur hippen Mitte-Szene dazu. Wir standen immer und überall auf irgendwelchen Gästeliste. Meine Freundin, weil sie wunderschön ist und jeden kennt. Und ich, naja, unter anderem als „Femen“-Mädchen durch die Medien bekannt. In der Rausch-orientierten-Mitte-Szene war ich nur eine unter vielen – allerdings ohne ihren speziellen Rausch. Es ging Richtung Borchards, das berühmte Promi-Lokal. Unser Ziel befand sich aber eine Etage höher: Das 1. OG, wie der V.I.P-Club nur genannt wurde. Da verwandelte sich eine noble Patrizier-Altbauwohnung Freitagsabends immer in einen Privatclub. Es gibt Musik, zumeist House, aufgelegt von irgendwelchen Szene-DJs. Es gibt Alkohol. Und es gibt diese kleinen Toiletten, die immer von mehreren gleichzeitig besetzt sind, weil einige lieber aufs Klo in Gruppen gehen, um sich die Nasen weiß zu pudern. Was man so übertrieben heimlich machte, dass jeder gleich Bescheid wusste.

Links neben der Bar ein gemütlicher Raum mit alten Ledersofas und Bücherregalen. Da saßen zumeist Männer, die redeten und gestikulierten. Daneben auffallend junge Mädchen.

Rechts neben der Bar ein großer Raum mit Sesseln und einem sehr langen Holztisch und vielen alten Stühlen drumherum. Da hockte Till Lindemann. Sein Blick wirkte leer. Er wirkte verschwitzt. Neben ihm Simone Thomalla. Nicht ihre Tochter Sophia. Die hatte sich kurze Zeit zuvor von Lindemann getrennt. Im Raum waren Freunde von mir. Bekannte berliner Gastronomen und Unternehmer. Fast alle entweder schon betrunken oder betrunken und vollgekokst. Ein geschlossener geschützter Raum. Die Szene trifft sich, feiert, hemmungslos, ohne Zuschauer, den alle werden miteinbezogen. Es findet auch kaum ein Journalist Zugang in diese Szene, außer er „feiert“ richtig mit. Mit gehangen, mit gefangen.

Der Abend schritt voran. Ich saß mal hier, mal da. Immer in Gespräche vertieft. Bis ich irgendwann an dem großen Tisch saß und mich mit einem Medienrechtler aus Köln unterhielt. Ich hatte Lindemann gar nicht bemerkt, dass er sich links neben mich auf den freien Stuhl gesetzt hatte. Ich saß seitlich mit dem Rücken zu ihm. Beim Gestikulieren rutschte ich auf dem Stuhl rum und sah ihn neben mir sitzen. Ich grinste nur und drehte mich wieder zu meinem Gesprächspartner.

Ich bemerkte, dass mich Lindemann die ganze Zeit anstarrte. Es fühlte sich komisch an. Vielleicht wollte er mit ins Gespräch einbezogen werden. Warum nicht. Ich wendete mich zu ihm und fragte, was er erzählen könne. Seine Antwort: „Seit wann seid Ihr zusammen?“ Ich: „Wir sind nicht zusammen. Wir unterhalten uns nur sehr nett, wie Du mitbekommen hast.“ Er: „Gut. Wo wohnst Du?“ Ich: „Was ist das denn für eine Frage?“ Er: „Wo wohnst Du.“ Ich: „In Berlin.“ Er: „Wo genau?“ Ich: „Das geht Dich nichts an.“ Er: „Doch. Ich fahr Dich gleich nach Hause.“ Ich: „Bestimmt nicht.“ Plötzlich, bevor ich aufstehen konnte, ergriff Lindemann meinen Arm. Ich drehte mich um. Er, verschwitzt, mit aufgeschwemmtem Gesicht, Piercings in den Augenbrauen, mit einem düsteren Blick und tiefer Stimme: „Ich fahr Dich gleich nach Hause.“

Ich laut und entschieden: „Was verstehst Du nicht an ‚bestimmt nicht‘?! Ich sage es Dir jetzt deutlich: Du fährst mich nicht nach Hause und ganz bestimmt ficke ich nicht mit Dir. Und fass mich nicht nochmal an.“ Ich riss mich los. Stand auf. Und ging schnell weg. Meine Freundin und andere hatten das gehört. Meine Freundin kam auf mich zu. „Was war das denn?“ Ich: „Naja. Der denkt wohl, der kann sich alles erlauben und einfach alles nehmen, was so ein Typ haben will. Ich brauch jetzt einen Drink um den Ekel runterzuspülen.“ Ich stand an der Bar, hatte mir grad einen Drink bestellt, drehte mich um und: schon wieder! Lindemann, ganz dicht vor mir. Er starrt mich an und sagte: „In 10 Minuten gehen wir. Ich fahr Dich nach Hause. Warte an der Tür. Ich komme dahin.“ Ich war fassungslos. Dann drehte er sich um und ging Richtung Toiletten, mitten ins Schneegestöber. Ich schnappte meinen Mantel, stolperte die Treppe hinunter, raus auf die Straße und rein ins Taxi, das vor der Tür stand. Im Taxi auf dem Weg nach Hause schüttelte ich den Ekel ab und schrieb meiner Freundin, dass ich weg bin, weil ich keinen Bock auf diesen Widerling mehr hatte. Sie hatte die ganze Szene mitbekommen, wie sie mir später erzählte.

Ich habe nie wirklich über diesen Vorfall nachgedacht. Sondern diesen nur als ekelhaftes Erlebnis archiviert. Nun, gut sieben Jahre später, ist das wieder da. Ausgelöst durch die Geschichte um Shelby Lynn. Und denke darauf herum: Was wäre gewesen, wenn ich als junges, noch unerfahrenes Mädchen in dieser Situation gewesen wäre? Hätte ich dieser Situation entkommen können? Oder hätte ich mich wegen meiner Sozialisierung und damit der anerzogenen Angst nicht entziehen können und er hätte mich nach Hause gefahren und mir befohlen, dass zu tun, was ER vielleicht wollte? Auch aus diesem Erlebnis in dieser Berliner Freitagnacht konnte ich etwas lernen. Für mich und vor allem für meine beiden Töchter. Meine Töchter werden anders erzogen. Denn wirklich sicher kann niemand vor Gewalt sein. Und Frauen aber noch weniger. Also muss Frau stark und wehrhaft werden. Um sich auch körperlich durchsetzen können. Daher werden die Töchter dazu ermuntert, selbstbestimmt zu sein. Entscheiden zu können. Sich durchsetzen und behaupten zu können. Wenn es nötig ist, auch körperlich. Seit ihrem vierten Lebensjahr betreibt die älteste Tochter Kampfkunst, Krav Maga. Für diese Anakondas da draußen.

Vor zwei Tagen meldete sich meine Freundin, die an dem geschilderten Abend im 1.OG dabei war, bei mir. Seit einigen Jahren lebt sie im Ausland. Dennoch hat sie von den Ereignissen rund um Till Lindemann mitbekommen. Sie schrieb, dass sie die Berichte der Frauen an diesen Abend erinnern würden, „als Till dich durchs 1. OG gejagt hat“…

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